Auf der Suche nach einem Fluchtweg
Keine Angst taucht in meiner Praxis so häufig auf, wie die Agoraphobie. Deshalb habe ich mich entschlossen, hier eine Übersicht über die Erkrankung zu geben – inklusive der Behandlungsmöglichkeiten und typischen Symptome der Angsterkrankung
Wie wird Agoraphobie diagnostiziert?
Laut ICD-10, dem internationalen Klassifikationssystem für Krankheiten, müssen mindestens zwei der folgenden Angstauslöser vorhanden sein, damit eine Agoraphobie diagnostiziert werden kann:
→ Angst tritt in Menschenmengen auf, zum Beispiel bei einem Konzert, in der Kneipe, im Kaufhaus
→ Die Angst überfällt mich an öffentlichen Plätzen, zum Beispiel in der Stadt auf dem Marktplatz, im Park etc.
→ Auf Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause – beispielsweise unterwegs mit der Bahn, mit dem Auto oder dem Flugzeug
→ Auf Reisen, die ich ganz alleine antrete: Zum Beispiel, wenn ich alleine mit dem Auto unterwegs bin oder wenn ich alleine mit der Bahn zur Arbeit fahre
Agoraphobie – eine Begriffserklärung
Die Agoraphobie wird zu den Angsterkrankungen gezählt. Der etwas ungewöhnliche Begriff stammt übrigens aus dem Altgriechischen und setzt sich aus “Agora”, Marktplatz und “Phobos”, Furcht, zusammen. Im Volksmund spricht man aber auch gerne von “Platzangst”. Wobei es bei dieser Begriffswahl häufig zu Missverständnissen kommt und die Platzangst mit der Klaustrophobie gleichgesetzt wird. Die Agoraphobie hat allerdings nichts mit der Angst vor engen Räumen gemein, sondern die Befürchtungen betreffen mehr bestimmte Orte oder die Angst vor Reisen.
Symptome der Agoraphobie (mit und ohne Panikstörung):
Fast immer treten in den gefürchteten Situationen vegetative Symptome auf, zum Beispiel:
- Derealisation und/oder Depersonalisation
- Mundtrockenheit
- das Gefühl keine Luft zu bekommen
- Gefühllosigkeit in den Extremitäten (Armen und Beinen), Kribbelgefühle
- Hitze- oder Kälteschauer
- Ohnmachtsgefühle
- Angst zu sterben und Weitere.
- Schwitzen
- “Flauer Magen”
- Übelkeit
- Schwindel
- Herzrasen
- erhöhter Puls
- Druckgefühl in der Brust, Engegefühl
- Angst vor Kontrollverlust
Diese Angstgefühle können sich bis hin zu Panikattacken steigern. Deshalb wird auch in der Diagnostik zwischen einer Agoraphobie ohne und einer mit Panikstörung unterschieden. Oftmals beginnt der Teufelskreis dieser Angststörung akut und sehr häufig auch mit einer Panikattacke an einem öffentlichen Ort oder in einer Situation, aus der “die Flucht” unmöglich scheint – zum Beispiel mitten auf der Autobahn, im Zug oder inmitten einer Menschenmenge. Dieses erste, oft lebensbedrohlich empfundene Gefühl von starker Angst oder Panik, manifestiert sich dann häufig. Vor allem, wenn weitere Panikanfälle folgen. Dies wiederum führt zu einer Einschränkung des Bewegungsradius, und Orte, die mit den zurückliegenden Angstsituationen verknüpft sind, werden schließlich ganz vermieden. Dieses Vermeidungsverhalten führt dann langfristig zu der Aufrechterhaltung der Angststörung.
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Differentialdiagnosen – ist es wirklich “nur” Angst?
Auf der Suche nach einer Ursache für ihr Leiden, konsultieren viele Patienten erst einmal den Hausarzt, oder suchen im Extremfall auch Hilfe in der Notaufnahme eines Krankenhauses. Ist ein Arzt geschult in psychosomatischer Grundversorgung, wird er den/die Patienten/in dann auch auf die Möglichkeit einer psychischen Erkrankung hinweisen und ihn zur weiteren Abklärung an einen Therapeuten oder Neurologen/Psychiater überweisen. Doch leider ist dies nicht immer der Fall. Nachdem organische Erkrankungen ausgeschlossen wurden, werden einige Patienten einfach ohne weitere Hilfestellungen entlassen, manchmal mit einer Tavor (sog. Anxiolytikum/angstlösendes Medikament) in der Tasche. Im ersten Moment wirkt dieses Beruhigungsmittel auch sehr zuverlässig, doch auf Grund des hohen Abhängigkeitspotentials ist Tavor kein Mittel der Wahl bei der Behandlung von Angst- und Panikerkrankungen.
Der Ausschluss organischer Grunderkrankungen als Auslöser für die Angst macht jedoch Sinn. Folgende Erkrankungen sollten dabei betrachtet werden: Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, Diabetes, Konsum von Suchtmitteln (Drogen, Alkohol, Nikotin), Erkrankungen der Atemwege, Migräne, Schilddrüsenerkrankungen (sowohl Unter- als auch Überfunktion der Schilddrüse), neurologische Erkrankungen, periphere Vestibularisstörung, benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, Autoimmunerkrankungen allgemein, andere psychische Erkrankungen (Schizophrenie, Zwangsstörungen etc.). Eventuell können auch hirnorganische Erkrankungen in diese Betrachtung miteinbezogen werden, wobei hier ein “Treffer” als Auslöser der Erkrankung äußerst selten ist.
Zum Ausschluss einer organischen Ursache sollten wenigstens folgende Untersuchungen durchgeführt werden:
− Ausführliche Anamnese
− Körperliche Untersuchung
− Blutbild, Blutzucker, Elektrolyte (Ca++, K+), Schilddrüsenstatus (TSH)
− EKG mit Rhythmusstreifen
− Lungenfunktion testen
− Bildgebungsverfahren (MRT, CT)
− EEG
Ist also erstmal organisch alles gecheckt und in Ordnung, kann weiter an den psychischen Ursachen für die Agoraphobie gearbeitet werden.
Was ist die Ursache für Agoraphobie?
Erst einmal vorweg: Es gibt ganz selten DEN Auslöser für die Erkrankung! Vielmehr kommen verschiedene Belastungsfaktoren zusammen, die dann irgendwann das “Fass zum Überlaufen” bringen und schließlich in einer Angsterkrankung münden. Dies können beispielsweise berufliche, als auch soziale Stresssituationen sein. Auch ein geringer Selbstwert kann die Erkrankung begünstigen. Wer zum Beispiel in seiner Vergangenheit häufiger die Erfahrung machen durfte, wie er Stresssituationen gesund bewältigen kann, der kann auf diese Erfahrungen zurückgreifen und sich sogar oftmals selbst helfen. Wer jedoch insgesamt unsicher durchs Leben geht, und eher auf Unterstützung und Hilfe in verschiedenen Lebenssituationen angewiesen ist, dem fehlen oftmals auch geeignete Konzepte beim Umgang mit herausfordernden Situationen. Vor allem aber die Erfahrung, dass er ohne fremde Unterstützung zurechtkommt. Ich weise allerdings hier ausdrücklich darauf hin, dass eine Agoraphobie nicht nur selbstunsichere Menschen treffen kann! Vielmehr kann es meiner Ansicht nach, jeden treffen, bei dem ungünstige Parameter zusammenkamen. Auch Schicksalsschläge, Vorerkrankungen oder Traumata können eine Agoraphobie begünstigen.
Manchmal lässt sich jedoch auf den ersten Blick nicht eine bestimmte Ursache für die Erkrankung feststellen. Vielmehr sind langandauernde Belastungssituationen, ob beruflich oder privat, die selbst Betroffenen nicht immer sofort zugänglich sind, Auslöser für das Entstehen der Agoraphobie. Wie bei allen psychischen Erkrankungen kann ebenfall eine genetische Komponente mitbeteiligt sein, die vielleicht noch nicht einmal bekannt ist, beispielsweise ein Elternteil oder ein Verwandter, der ebenfalls unter einer Angsterkrankung leidet oder in der Vergangenheit litt. Und manche Menschen sind einfach “leichter irritierbar”, das heißt, sie nehmen insgesamt körperliche Reaktionen oder Veränderungen sensibler wahr, und sind in ihrer Aufmerksamkeit dementsprechend auf ihre körperlichen Vorgänge stark fokussiert. Diese Fokussierung auf jeden Herzschlag, den Puls oder andere körperlichen Sensationen führt dann zu einer Überachtsamkeit auf eigentlich normale körperliche Vorgänge, die jedoch – dank der verstärkten Aufmerksamkeit – auch negativ beeinflusst werden können. Sprich: Wenn ich mir Sorgen um meinen Puls mache und ihn wie wild beobachte, dann wird er tatsächlich irgendwann anfangen zu rasen. Ich kann also alleine mit der Macht meiner Gedanken gewisse körperliche Reaktionen beeinflussen. Bin ich sehr stark mit meinem Körper beschäftigt und nehme grundsätzlich verschiedene Körperreaktionen als bedrohlich war, dann bin ich auch schneller an der Panik dran.
Behandlung der Agoraphobie
Nach der S3-Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen, entwickelt von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), wird bei der Agoraphobie folgendes Vorgehen empfohlen:
- Psychotherapie (Kognitive Verhaltenstherapie)
- Pharmakotherapie
Häufige Medikamente, die hier zum Einsatz kommen:
SSRI: z.B. Citalopram, Escitalopram, Sertralin, Paroxetin, Fluoxetin
SNRI: z.B. Venlaxafin
TZA: Clomipramin (jedoch nur, wenn andere SSRI und SNRI nicht die gewünschte Wirksamkeit erbracht haben)
- Sport (Ausdauertraining als ergänzende Maßnahme)
- Patientenselbsthilfe- und Angehörigengruppe
Ob und inwieweit zu den therapeutischen Interventionen zusätzlich noch ein Antidepressivum indiziert ist, sollte individuell abgewogen werden und hängt auch mit der Schwere und Dauer der Störung zusammen.
Sogenanntes “State of the Art-Vorgehen” bei der Behandlung der Agoraphobie stellt die kognitive Verhaltenstherapie dar (KVT). Diese geht idealerweise systematisch und zielorientiert vor und richtet sich nach empirisch fundierten Behandlungsprotokollen. Vor allem beim Vorliegen einer Agoraphobie mit Panikstörung sollte die Therapie Konfrontationsübungen (Expositionen) mit den angstauslösenden Situationen beinhalten – sowohl in sensu (in Gedanken) als auch in vivo (“in Echt” / “Außenexpos”).
Ziele der Behandlung sind:
− Angstsymptome und Vermeidungsverhalten zu reduzieren und langfristig abzubauen
− Die Rückfallwahrscheinlichkeit der Angstsymptome zu reduzieren
− Den persönlichen Radius wieder zu vergrößern
− Soziale Kontakte/Fähigkeiten zu aktivieren/reaktivieren
− Ressourcen aufzubauen und/oder auszubauen
− Die Berufsfähigkeit wiederherzustellen
− Die Lebensqualität zu verbessern
− Sich der eigenen Stärken und Möglichkeiten bewusst zu werden / mehr Selbstwert zu erlangen
− Werte zu hinterfragen
− Stabilität in allen Lebensbereichen erhalten
− Hilfreiche Strategien mit dem Umgang von Stress zu entwickeln
− Selbstfürsorge zu erlernen
Bei Angsterkrankungen ist es außerdem oft hilfreich, wenn das nächste Umfeld über die Erkrankung im Bilde ist. Das ist nicht nur für den Patienten entlastend, Familie und Freunde können auch dazu beitragen, einen besseren Behandlungserfolg zu erzielen.
*Haftungshinweis
Die hier aufgeführten Hinweise und Fakten wurden mit größtmöglicher Sorgfalt erstellt. Dennoch kann keine Gewähr für die Vollständigkeit, Richtigkeit und Aktualität der Inhalte gegeben werden. Gleiches gilt insbesondere für die Inhalte externer Links. Die individuelle Interpretation des hier wiedergegebenen Inhalts ersetzt keinen Arztbesuch oder eine ärztliche Beratung und Untersuchung.
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